Professor Dr. Michael Müller (Foto: Klaus Polkowski)

Mit der Ethik zu einer nachhaltigeren Pharmazie?

An der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg wird für Studierende der Pharmazie seit 2008 ein inter­disziplinäres Seminar zu „Ethik und Nachhaltigkeit“ angeboten. Gelehrt wird das Fach von Professor Dr. Michael Müller in Zusammenarbeit mit der Biologin Dr. Stefanie Houwaart und dem Theologen Dr. Dominik Baltes. Im Gespräch mit der UniDAZ berichtete er, was hinter dem Fortbildungsangebot steht, wie es abläuft und welche Ziele damit verfolgt werden.

Nach dem Studium der Chemie an der Universität in Bonn und der Promotion in München wurde Professor Dr. Michael Müller an die Albert-Ludwigs-Universität (ALU) Freiburg berufen und hat seitdem die Professur für Pharmazeutische und Medizinische Chemie inne. Zusammen mit seinem Arbeitskreis beschäftigt er sich mit natürlichen Wirkstoffen, deren Biosynthese sowie deren Vielfalt. Darüber hinaus bietet er das Seminar „Ethik und Nachhaltigkeit“ für Studierende der Pharmazie, der Pharmaceutical Sciences und weiterer Studiengänge an. Dank ihrer Forschungsarbeiten erkannte die Gruppe Müller, dass „auch auf molekularer Ebene, wie von Alexander von Humboldt in der makroskopischen Welt beschrieben, alles mit allem zusammenhängt – und sich gegenseitig bedingt.“ Dabei können bereits kleinste Eingriffe zu massiven Veränderungen führen (siehe Kasten).

Durch einen glücklichen Zufall kam Professor Müller mit Professor Dr. Eberhard Schockenhoff in Kontakt, der 2020 verstarb und bis zuletzt als Professor für Moraltheologie an der ALU Freiburg lehrte. Müller berichtete, dass der profilierte Moraltheologe Schockenhoff das erste interdisziplinäre Ethikseminar in der Pharmazie im Sommersemester 2008 an der ALU hielt, gemeinsam mit dem Bio- und Medizinethiker Professor Dr. med. Giovanni Maio.

Schneeball- und Schmetterlingseffekt
Kleine Veränderungen können große Effekte nach sich ziehen. Wir kennen das von Phänomenen wie dem Schneeball- oder dem Schmetterlingseffekt. Beim Schneeballeffekt können wir eine lineare Dynamik mit steigender Intensität beobachten – wie bei einer Lawine, die aus einem kleinen herabrollenden Schneeball entsteht. Der Schmetterlingseffekt folgt der Chaostheorie und besagt, dass eine kleine Veränderung der Ausgangssitua­tion an Punkt A (z.B. der Flügelschlag eines Schmetterlings) zu unvorhersehbaren Auswirkungen an Punkt B führen kann.

Von „Ethik und Nachhaltigkeit“

Analytisch denken, kritisch hinterfragen, selbstständig handeln. Diese Fähigkeiten möchte Müller die Studierenden im Seminar „Ethik und Nachhaltigkeit“ lehren. Das Ziel? Ethische Problemfelder erkennen und beschreiben sowie die erlernten Argumentationsweisen kritisch in der Analyse anwenden können. Im Seminar wird zunächst eine theoretisch-philosophische Basis erarbeitet. Im nächsten Seminarabschnitt werden dann reale biomedizinische Fragestellungen erörtert. Gelehrt wird
unter wegweisenden Grundsätzen, wie z.B.:

„Setze die Wirkung einer Maßnahme über deren demonstrative Sichtbarkeit“ oder

„Der Arbeitsmarkt ist heute einer Dynamik unterworfen, die wissenschaftliche Bildung zur besten Ausbildung macht. Eine Berufsorientierung der Studiengänge wäre ein folgenschwerer Irrtum.“ (Julian Nida-Rümelin, Mai 2005)

Außerdem werden konkrete Dilemmata diskutiert, denen mit keiner simplen Antwort Genüge getan werden kann.


Auch wenn die Zusammenführung ethischer Fragestellungen und der Pharmazie laut Müller in der Praxis
bislang nur bedingt von Erfolg gekrönt ist, darf die ethische Reflexion nicht vernachlässigt werden. „In der Pharmazie ist der Mensch nicht nur Beobachter, sondern Teil des Objekts selbst. Das betrifft nicht nur die Aspekte der Klinischen Pharmazie und Pharmakologie, sondern auch das Menschsein an sich“, sagt Müller. Beispielsweise nennt er neben Wünschen, Ängsten und Hoffnungen auch die Gier und Suche nach Erfüllung und Heil auf dieser Erde, was das Pharmakon zu einem Heilmittel und Gift zugleich mache. Er berichtet, dass das Seminar einen geschützten Rahmen bietet, in dem schwierige bis unlösbare Fragestellungen erörtert und kritische Diskussionen und analytische Denkmuster geübt werden könnten – ohne Wertungen oder Schuldzuweisungen.

Engagierte Studierende diskutieren im Ethik-Seminar an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg (Foto: Klaus Polkowski)

Was ist eine nachhaltige Pharmazie?

Bislang würden unter nachhaltiger (grüner) Pharmazie überwiegend ökologische Entscheidungskriterien herangezogen, so Müllers Einschätzung. Er definiert die nachhaltige Pharmazie als gleichzeitige, gleichberechtigte und dynamische Einbeziehung pharmakologischer, ökologischer, wirtschaftlicher, sozialer und rechtlicher Aspekte. Ziel sei das Ermöglichen einer wirksamen Behandlung von Krankheiten für heutige und zukünftige Generationen. Müller sieht die nachhaltige Pharmazie vielmehr als eine dynamische Annäherung statt als final zu erreichenden Zustand.

Nach und nach halten Ethik und Nachhaltigkeit Einzug in die Studiengänge, und auch verschiedene Gesellschaften befassen sich konkreter mit dem Thema – Professor Müller erwähnt einen Vorschlag zur Gründung einer AG „Nachhaltige Pharmazie“, welcher der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft (DPhG) vorliegt. Die DPhG-Jahrestagung, die ab 29. September 2025 in Freiburg stattfinden wird, steht unter dem Slogan „Sustainability as a Challange for the Pharmaceutical Sciences“.

Ein Fallbeispiel aus dem Seminar

Professor Müller veranschaulicht die beschriebenen Seminarinhalte mit einem Fallbeispiel, das er gerne als Diskussionsgrundlage im Rahmen des Seminars anbringt: der auf dem Theaterstück „Terror“ von Ferdinand von Schirach basierende Film „Terror – Ihr Urteil“. Mittelpunkt des fiktiven Gerichtsdramas ist ein Major, der angeklagt wird, nachdem er entgegen seinen Befehlen ein von Terroristen gekapertes Passagierflugzeug abschießt, das auf ein Fußballstadion mit 70.000 Menschen zusteuerte. Alle 164 Passagiere des Flugzeugs sterben bei dem Vorgehen. Das Publikum des Gerichtsdramas soll als Schöffen über Verurteilung und Freispruch entscheiden. Müller erklärte, dass in dem Drama deutlich werde, dass intuitive Entscheidungen oder auch auf einem ausgesprochenen Gerechtigkeitssinn fußende Schiedssprüche nicht unbedingt ethischen Argumentationen standhalten. Es stelle in fundierter Weise die Problematik dar, die sich ergebe, wenn ethische Dilemmata in der realen Welt zu entscheiden seien. „Die Übertragung in die ‚reale pharmazeutische Welt‘ haben wir in der Coronakrise erleben müssen. Hoffen wir, dass Entscheidungen in zukünftigen Krisen auf einem festeren ethischen Fun­dament basieren“, sagt Professor Müller.

So könnt auch ihr in die Materie einsteigen
Als guten Einstieg empfiehlt der Professor den Fernsehfilm „Terror – Ihr Urteil“ nach Ferdinand von Schirach sowie das Buch „Corpus Delicti“ von Juli Zeh oder „Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt. Wer etwas tiefer graben möchte, für den könnte auch die „Einführung in die philosophische Ethik“ von Dietmar Hübner oder aber Giovanni Maios Werk „Mittelpunkt Mensch: Lehrbuch der Ethik in der Medizin“ interessant sein. Ein analytischer Blick auf die vermeintliche sozialökologische Transformation lässt sich mithilfe des Buches „Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit“ von Ingolfur Blühdorn und die dazugehörigen, im Internet abrufbaren Vorträge erhaschen.

Ethik im Pharmaziestudium

Bislang fehlt die Ethik noch in den meisten Studienordnungen. Professor Müller führte das auf zwei Aspekte zurück: Scheu vor geisteswissenschaftlichen Themen und die Apokalypse-Blindheit nach Günther Anders, also die Unfähigkeit der Menschen, sich die schlimmen Folgen ihres Handelns vorzustellen. Zudem lasse der stramme Lehrplan des Studiengangs „Pharmazie Staatsexamen“ leider kaum Zeit für freiwillige und nicht anzurechnende Studienleistungen, weshalb nur wenige Studierende den Weg in die Räume des Ethik-Seminars fänden. Umso erfreulicher findet Müller, dass in der novellierten Approbationsordnung für Apotheker ein Modul für rechtliche, gesellschaftliche und ethische Dimensionen der pharmazeutischen Wissenschaften vorgesehen ist und dieses fester Bestandteil des Curriculums werden soll. In verwandten Masterstudiengängen ist die Nachfrage aktuell deutlich höher, für den seit 2018 bestehenden Masterstudiengang „Pharmaceutical Science“ ist das Modul in der Spezialisierung „Regulatory Affairs and Drug Development“ sogar fest integriert.

Und was Prof. Müller euch noch mit auf den Weg geben möchte:
„Schreiben Sie mir, wenn Sie Fragen oder Anregungen haben. Ganz gleich wie düster die Zukunft aussehen mag, ergreifen Sie Initiative! Suchen Sie sich Gleichgesinnte und tauschen Sie sich aus. Werden Sie aktiv – Sie sind die Expert*innen der Zukunft!“

Lara Hahn

Lara Hahn hat in Würzburg Pharmazie studiert und nach Erhalt ihrer Approbation ein Jahr in einer öffentlichen Apotheke gearbeitet. Seit Mitte 2024 arbeitet sie als Volontärin in der Redaktion der medizinisch-pharmazeutischen Zeitschriftentitel.