Illustration: Malena Kronschnabl

Wachsame Augen für sichere Arzneimittel

Pharmakovigilanz ist auch eine europäische Aufgabe

Die Pharmakovigilanz hat Arzneimittel und ihre möglichen Nebenwirkungen nach der Marktzulassung im Fokus. Denn in Studien mit begrenzten Probandenzahlen können selten auftretende, unerwünschte Arzneimittelwirkungen in der Regel nicht beobachtet werden. Kommen Verdachtsfälle auf, werden diese bewertet und die Entwicklungen verfolgt. Das trägt zur Sicherheit von Arzneimitteln bei.

Die Bedeutung der Pharmakovigilanz wird am Beispiel der COVID-19-Impfstoffe klar: Die Unsicherheit vieler Menschen bezüglich der Verträglichkeit der neuen mRNA-Impfstoffe hat viele von einer lebensrettenden Immunisierung abgehalten. Dabei kann man ohne Zögern behaupten, dass Europa eines der besten Pharmakovigilanz-Systeme der Welt besitzt, das auf Basis der Good Pharmacovigilance Practices (GVP) arbeitet.
Es ist das Pharmacovigilance Risk Assessment Committee (PRAC), das als Ausschuss der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMA angehört. Dieses Komitee setzt sich aus Vertretern und Vertreterinnen aller nationalen Behörden der EU sowie der Heilberufe und der Patienten zusammen.
Schon im Verlauf der Zulassung eines Arzneimittels wird in einem Risk Management Plan (RMP) anhand der Zulassungsstudien festgelegt, welche eventuellen unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) zu erwarten und daher intensiv zu verfolgen sind. Das führt zum Teil dazu, dass zusätzliche Studien, sogenannte Post Authorisation Safety Studies (PASS), verlangt werden. Die Hersteller sind darüber hinaus dazu verpflichtet, auch nach Zulassung Sicherheitsdaten zu sammeln und in regelmäßigen Abständen dem PRAC zu melden. Das geschieht in einem Periodic Safety Update Report (PSUR). Dazu kommen noch Daten, die in der EudraVigilance-Datenbank gesammelt werden. Diese ist eine allgemein zugängliche Datenbank, in der nicht nur Heilberufler, sondern auch Betroffene selbst vermutete unerwünschte Arzneimittelwirkungen eintragen und bereits vorhandene Daten einsehen können.

Sie haben in Deutschland auch die Möglichkeit, solche Verdachtsfälle an Ärzte und Ärztinnen, Apotheker und Apothekerinnen, Hersteller oder auf der Webseite des Paul-Ehrlich-Instituts zu melden. Bedauerlicherweise sind viele Meldungen zum Zweck der Pharmakovigilanz wenig hilfreich, da sie nicht alle zur Bewertung notwendigen Informationen liefern, wie beispielsweise Komedikation, Komorbiditäten oder genaue Angaben der Dosierung. Gleichzeitig werden UAW oft überhaupt nicht als solche erkannt oder gemeldet. Findet ein Thema aber die Aufmerksamkeit der Presse, wie zum Beispiel die Thrombosen bei COVID-19-Impfstoffen, dann schnellen die Meldungen in eine Höhe, die eine Einzelprüfung nicht mehr zulassen. Im Jahr 2020 gab es im Durchschnitt fast 70.000 Meldungen pro Monat aus europäischen Ländern, von denen 71% COVID-19-Impfstoffe betrafen. Es bleibt also das Dilemma der Pharmakovigilanz, die wahre Inzidenz von UAW zu schätzen. Statistische Methoden helfen hier, ohne jedoch das Problem ganz zu lösen.
Zum Schutz der Patienten vor unerwünschten Arzneimittelwirkungen verwendet der PRAC hauptsächlich zwei Verfahren: Das erste ist das Signal-Verfahren. In diesem Fall werden Auffälligkeiten beim Periodic Safety Update Report (PSUR) oder bei der EudraVigilance-Datenbank bewertet. Sind die gemeldeten Fälle höher als normalerweise bei der betroffenen Patientengruppe zu erwarten wäre (Observed/Expected-[O/E-]Analyse), wird die Plausibilität der unerwünschten Arzneimittelwirkung anhand der Einzelberichte, den Individual Case Safety Reports (ICSR), geschätzt. Sind die Einzelberichte in Bezug auf Störungsfaktoren (Confounder) unvollständig, ist eine eindeutige Zuordnung der Nebenwirkung zum Arzneimittel schwierig. Ist sie jedoch mindestens wahrscheinlich, folgt in etwa der Hälfte der Prozesse eine für die Hersteller obligatorische Änderung der Fachinformation und des Beipackzettels bezüglich der Warnhinweise und Nebenwirkungen. Die Wahrscheinlichkeit der unerwünschten Arzneimittelwirkung wird in standardisierten Kategorien dargestellt (s. Tab.).

sehr häufig Bei mehr als 10% der Behandelten ist die Nebenwirkung aufgetreten.
häufig Bei 1 bis 10% der Behandelten ist die Nebenwirkung aufgetreten.
gelegentlich Bei 0,1% bis 1% der Behandelten ist die Nebenwirkung aufgetreten.
seltenBei 0,01% bis 0,1% der Behandelten ist die Nebenwirkung aufgetreten.
sehr seltenBei weniger als 0,01% der Behandelten ist die Nebenwirkung aufgetreten.
nicht bekanntHäufigkeit auf Grundlage der verfügbaren Daten nicht abschätzbar
Angaben zur Häufigkeit von Nebenwirkungen


Das größte Problem bei diesem Verfahren ist das Zusammenführen der Daten aus Einzelberichten, Datenbanken, Literatur und anderen Quellen, weil oft die Bezeichnung der Arzneiform, der Nebenwirkung und der Diagnosen sowie der allgemeinen Gesundheitsdaten der Patienten uneinheitlich ist. Außerdem können Datensätze wegen der Meldung aus verschiedenen Quellen doppelt sein. In letzter Zeit wurden deshalb erhebliche Anstrengungen unternommen, um eine Einheitlichkeit nach internationalen Normen zu erzielen, die sicher einen großen Beitrag zur objektiven Einschätzung bedeuten.
Stuft eine nationale Behörde ein Signal als so gravierend ein, dass eine neue Einschätzung des Arzneimittelprofils angebracht erscheint, so kann sie diese Aufgabe der EMA in einem Referral-Verfahren „übergeben“ (engl. (to) refer). In diesem werden die Risiken gegenüber dem Nutzen des Arzneimittels bewertet. Daraus kann ein Ruhen der Zulassung folgen, bis neue Daten eine positive Bilanz begründen, oder sogar ein Widerruf, der eine weitere Anwendung des Präparates verbietet.
Es bleibt für die Pharmakovigilanz eine primäre Aufgabe, die richtige Balance zu finden. Zum einen soll es nicht zu einer starken Fokussierung auf die Nebenwirkungen kommen, die zu einer schlechten Adhärenz und in Folge zu einer nicht ausreichenden Behandlung der Krankheit führen kann. Zum anderen ist das Wissen über die Vorsichtsmaßnahmen, die bei allen Arzneimitteln zu berücksichtigen sind, notwendig. Das führt zu Diskussionen, die nicht selten beim PRAC viel Zeit in Anspruch nehmen, aber gleichzeitig für die gute Qualität der Fachinformationen bürgen. Arzneimittelsicherheit kommt eben nicht von selbst, sondern muss mit Wachsamkeit und einer guten Beurteilungsfähigkeit erarbeitet werden.

Dr. Roberto Frontini, Leipzig

Dr. Roberto Frontini studierte Musik an der Universität Frankfurt am Main und Pharmazie in Hamburg. Nach seiner Promotion arbeitete er als Krankenhausapotheker in Lübeck und Köln, bis zu seiner Pension 2018 war er Direktor der Klinikapotheke am Universitätsklinikum Leipzig. Zwischen 2009 und 2015 war er der Präsident der European Assosiation of Hospital Pharmacists. Seit 2019 ist er Mitglied des Pharmacovigilance Risk Assessment Committee (PRAC) der Europäischen Arzneimittelagentur EMA.