Illustration: Wessinger und Peng

Der ideale Chef digital

Neue Verantwortung heißt Teamplayer sein

Bestimmt erinnert ihr euch noch an die Spielshow „Wetten, dass…?“, die früher Millionen Fernsehzuschauer an die Bildschirme gefesselt hat. Samstagabends saß die ganze Familie auf der Couch, und am Montagmorgen wurde dann auf der Arbeit oder in der Schule über die beste Wette diskutiert und gestritten. Heute würde das nicht mehr funktionieren, das kennt ihr wahrscheinlich aus eurem Freundeskreis.

Es gibt mittlerweile Hunderte Sender und Streamingportale, daher ist es unwahrscheinlich, dass mehrere Kommilitonen das Gleiche gesehen haben. Genauso ist es auch in der Apotheke: Früher gelangten neue Informationen geordnet über die Apothekerzeitung oder den Außendienst zunächst zum Chef und dann zum Team. Heute gibt es zahlreiche Portale, Social-Media-Accounts, Newsletter und Webinare. Das führt dazu, dass jeder Mitarbeiter anderes Spezial-Wissen hat, je nachdem wo seine Interessen liegen. Und das ist auch gut so, um die vielseitigen Anforderungen erfüllen zu können.

Die Zeiten vom Superchef, der alleine in seinem Büro sitzt, gute Ideen ausbrütet und dann alle Mitarbeiter perfekt koordiniert, sind vorbei. Mit Donald Trump saß vier Jahre ein Präsident im Weißen Haus, der es noch auf „die alte Art“ versuchte: mit klaren Hierarchien und der alleinigen Kontrolle aller Entscheidungen.

Das führt bekanntermaßen nicht nur zu einem hohen Verschleiß an Beratern, sondern schwächt das ganze Land für die Zukunft. Doch auch in vielen Apotheken wurde bis vor einigen Jahren noch eine straffe Top-down-Kommunikation gepflegt, und das zum Teil bis heute. Apropos Donald Trump: Die Neandertaler lebten lange Zeit parallel mit dem Homo sapiens, bevor sie von diesem verdrängt wurden. Dabei war der Neandertaler meist körperlich stärker und hatte auch ein größeres Gehirn. Aber warum ist er dann ausgestorben? Eine bekannte Theorie nimmt an, dass es an der besseren Zusammenarbeit und Vernetzung des modernen Menschen gelegen hat. Nicht jeder musste mehr alles alleine beherrschen, sondern konnte sich auf andere Spezialisten in seiner Gruppe verlassen.

Klausurrelevanz im Apothekenalltag

An der Überlegenheit einer guten internen Vernetzung gegenüber Einzelkämpfern hat sich bis heute nichts geändert. Apotheken, die das erkennen und nutzen, können gewaltige Sprünge machen. Denn während sich die Digitalisierung in den letzten Jahren vor allem in Richtung Kundschaft abgespielt hat, läuft die Zusammenarbeit im Team mit Pinnwand, Übergabebuch und Telefon meist noch sehr altmodisch ab. Das bremst, denn aus dem Privatbereich sind Mitarbeiter natürlich längst einen schnelleren Austausch gewöhnt. In der Apotheke führt das zu Fehlern in den täglichen Abläufen, den immer gleichen Fragen, Unsicherheit – und schließlich zu Überforderung.

Ich kenne das noch aus meiner Uni-Zeit. Wenn ich (natürlich nur ganz selten!) mal eine Vorlesung ausgelassen habe, war es hinterher doppelt schwierig, an die Informationen zu kommen. Klar hatte ich das Skript, aber für wirklich wichtige Infos (#klausurrelevant) musste ich mich durchfragen. Nichts ist beängstigender als Kommilitonen, die bereits über ein Thema fachsimpeln, von dem man selbst noch nie gehört hat. Überforderung führt am Ende immer dazu, dass die Motivation sinkt.

Daher ist es nicht überraschend, was im letzten Jahr eine große Studie des ADP Research Instituts (ADPRI) mit mehr als 19.000 Arbeitskräften ergeben hat. Gesucht wurde nach den wichtigsten Voraussetzungen, um das Engagement der Mitarbeiter:innen zu stärken: Nach einer grundsätzlichen Identifizierung mit den Werten des Unternehmens waren die wichtigsten Faktoren „Ich weiß genau, was von mir erwartet wird“ und „Ich kann jeden Tag meine Stärken einsetzen“. Das hört sich zunächst nach sinnvollen und einfachen Anforderungen an – fällt in der Realität aber vielen Apotheken schwer.

Spätestens in der Corona-Krise ist dies in den meisten Apotheken sichtbar geworden. Corona war allerdings nicht der Auslöser, sondern eher ein Katalysator, der bereits vorhandene Schwachstellen in der internen Kommunikation deutlich gemacht hat. Eine nur auf persönlichen Gesprächen und Aushängen beruhende Kommunikation stößt schnell an ihre Grenzen. Die interne Zusammenarbeit benötigt ein Update, und natürlich bieten sich heute digitale Lösungen an. Digital deshalb, damit es von überall erreichbar und einsehbar ist, auch über Filialen verteilt. Auch die einfache Durchsuchbarkeit spricht dafür. In großen Unternehmen sind solche Intranets bereits seit Jahren etabliert. Statt einer strengen Top-down-Kommunikation zapft man dort heute das vielseitige Wissen der Angestellten an. Auch Apotheken beginnen in den letzten Monaten vermehrt, sich mit Team-Apps zu vernetzen.

Asynchron statt asozial

Das funktioniert in der Praxis so gut, weil es asynchron ist: Jeder kann eine Information dann nachlesen, wenn er die Zeit und Konzentration dafür hat. 2018 berichtete die JAMES-Studie der Züricher Hochschule für angewandte Psychologie, dass 30% der Jugendlichen die Telefonfunktion ihres Handys gar nicht mehr nutzen. Den Messenger nutzen aber beinahe alle täglich. Denn eine geschriebene Nachricht kann man reflektieren und korrigieren. Man kann sich ein paar Sekunden Zeit lassen, bevor sie abgeschickt wird. Das gesprochene Wort hingegen ist in der Welt, sobald es einmal gesagt wurde, und kann nicht zurückgenommen werden. Denkt nur mal an den Unterschied zwischen mündlichen und schriftlichen Prüfungen!

Illustration: Wessinger und Peng

Eine Information, die der Chef oder die Chefin zwischen Tür und Angel mitteilt, wird meist schnell vergessen. Wenn ihr bereits in der Apotheke gearbeitet habt, kennt ihr das: Ihr seid mit dem Kopf gerade woanders, bedient einen Kunden oder habt vielleicht Pause. Gerade jetzt kommt die große Ansprache der vorgesetzten Person über neue Abläufe und Ideen für die Zukunft. Überschätzt jetzt nicht die Aufnahmefähigkeit eures Gehirns für neue Infos – das nimmt nach dem Stex leider wieder ab. Alle Neuigkeiten werden laufend in die Kategorien „Wichtig“ und „Unwichtig“ eingeordnet. Für eine Info gibt es gerade keine Verwendung? Weg damit! Wenn es dann nach zwei Wochen doch aktuell sein wird, will man davon nichts gehört haben. Das ist so wie mit meiner Teedrogen-Prüfung: Ich weiß, ich muss das mal irgendwann gewusst haben, aber heute ist nichts mehr von meinem Wissen übrig. Denkt daher noch mal an den Hörsaal: Auch wenn ihr keine einzige Vorlesung auslasst und ein Professor alles in Ruhe erklärt, reicht es für ein genaues Verständnis meistens nicht aus – dafür gibt es das Skript mit euren Notizen. Erst wenn ihr das anschließend (oder vor der Klausur) in „Ruhe“ durcharbeitet, sitzt der Stoff. Natürlich ist das persönliche Gespräch nicht zu ersetzen, wenn es um den Transport von Gefühlen und Wertschätzung geht. Lob, große Änderungen, Rückschläge und Beschwerden sollten weiter im direkten Austausch geäußert werden. Für nüchterne Fakten, komplexe Prozesse, um neue Anweisungen oder Fragen gemeinsam zu besprechen, bringt es aber keine Vorteile. Hier sollte der Austausch über ein Intranet laufen. Dieses darf heute nicht mehr nur Sprachrohr der Unternehmensführung sein – jeder im Team sollte gleichberechtigt posten und sein Wissen mit anderen teilen dürfen. Erst durch diese vielseitige Vernetzung wird das Team zu einem „Superteam“ und kann Informationen aus allen Richtungen bündeln.

Reden ist Silber, Schreiben ist Gold

Wer in der Apotheke ein Intranet einsetzt, wird schnell merken, dass der Nutzen weit über das Wissensmanagement hinausgeht. Euer Team wird zu einer Gemeinschaft geformt. Es ist der gleiche Effekt wie auch in sozialen Medien: Menschen berichten gerne davon, was sie gerade bewegt, und Freunde reagieren darauf. Im Arbeitsumfeld funktioniert es genauso, nur auf einer anderen, fachlicheren Ebene. Ihr sollt natürlich nicht euer Mittagessen fotografieren, aber mit einem kurzen Update von einer Fortbildung oder einem Trick in der Warenwirtschaft sammelt ihr ebenfalls schnell einige Likes.

Auch Führungskräfte können kurz einen Kommentar oder ein „Gefällt mir“ abgeben. Das ersetzt zwar kein persönliches Lob, aber ihr wisst, dass eure Leistung bemerkt wurde (und glaubt mir, das ist besser als nichts). Außerdem arbeitet ihr in gut vernetzten Teams viel eigenverantwortlicher und agiert stärker untereinander. Die ADPRI-Studie hat ergeben, dass Mitarbeiter besonders produktiv arbeiten, wenn sie ihre Stärken ausspielen können. Das kennt ihr wahrscheinlich von euch selbst: Während dem einen Pharmakologie leicht von der Hand ging, lief es bei anderen bei der Biologie. Mich zum Beispiel könnt ihr jagen mit Fragen zur Inkontinenz-Abrechnung oder Homöopathie, aber einige meiner Kollegen und Kolleginnen sind tatsächlich gerade bei diesen Themen begeisterungsfähig (ja, wirklich…).

Häufig wissen Menschen nicht, dass sie Spezialisten auf einem Gebiet sind. Die vernetzte Zusammenarbeit macht individuelle Stärken sichtbar. Bei uns hatte eine Kollegin beispielsweise immer die passenden Antworten parat, wenn es Fragen zur Abrechnung von Rezepten gab – ein riesiges Thema im Apothekenalltag. Auch wenn sie sich früher in Teammeetings nur wenig beteiligt hat, war sie digital immer sofort bereit, sich einzubringen und Kollegen zu helfen. Ihr Wissen aus zahlreichen Fortbildungen stellte sie gern zur Verfügung. Sie wusste gar nicht, was sie für ein Expertenwissen angehäuft hatte. Gerade schüchternen Mitarbeitern (und Führungskräften) hilft die digitale Kommunikation, sich aktiv zu beteiligen.

Im Vergleich zu Telefonaten kostet ein Posting oder ein Kommentar durch die geringere Aktivierungsenergie kaum Überwindung. Laut dem bekannten Gallup-Institut machen etwa 70% aller Mitarbeiter Dienst nach Vorschrift, und nur 15% sind wirklich engagiert dabei. Die langfristige Motivation wird interessanterweise aber nicht durch ein höheres Gehalt gesteigert. Der Schlüssel zur Motivation ist echte Wertschätzung. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen müssen die Möglichkeit haben, individuelle Interessen gewinnbringend einzusetzen. Stellt euch vor, ihr wollt euch mit eurem Lieblingsthema einbringen, aber der Chef winkt nur ab – und macht es später lieblos selbst. Frustrierend!

Teams müssen dynamisch sein

Durch ähnliche Anforderungen macht es in Filialverbünden keinen Sinn, sich nur innerhalb der Organigramm-Struktur auszutauschen. Sinnvoll ist die Verbindung nach Interessen: Filialleiter wollen sich vielleicht über Führung und Organisation austauschen, PKAs zu Einkauf und Lager. Arbeiten in der Apotheke mehrere PhiPs, wollt ihr eure Erfahrungen und Fragen natürlich untereinander klären. Die Vernetzung der Zukunft muss über dynamische Teams laufen, die sich spontan zusammenfinden. So können plötzlich starke Synergien im Verbund entstehen. In meinem Apothekenverbund arbeiten wir seit Jahren in Ressorts. Diese Art der Mitbestimmung hat die Entwicklung der Apotheke enorm beschleunigt, weil auf einmal mehrgleisig gefahren werden konnte.

Eine moderne Vernetzung bindet das Team und hat einen nicht zu unterschätzenden Effekt auf neue Bewerber. Die häufigsten Gründe, den Arbeitgeber zu wechseln, sind ein Mangel an Struktur, eine schlechte Übersicht und fehlende Anerkennung – alles Kriterien, bei denen Apotheken mit einer digitalen Vernetzung punkten. Habt ihr den Arbeitsvertrag unterschrieben, vermittelt euch bereits das reine Mitlesen der digitalen Kommunikation ein gutes Gefühl für die Kultur und Abläufe im Unternehmen. Wie gehen wir miteinander und mit der Kundschaft um? Gibt es eine offene Fehlerkultur? Wen kann ich ansprechen? Neue Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen werden so deutlich schneller eingearbeitet, da bereits Antworten gefunden wurden und so Sicherheit aufgebaut wird.

Der technologische Fortschritt soll den Menschen das Leben leichter machen. Im Privaten bewirkt er jedoch häufig das Gegenteil und führt zu einem Gefühl von weniger Zeit und mehr Stress. Im geschäftlichen Umfeld bringen die klare Kommunikation und die Möglichkeit, alles per Knopfdruck wiederzufinden und nachzulesen, tatsächlich eine angenehme Ruhe ins Team. Interne Telefonate und Nachfragen nehmen ab, denn jeder weiß, was zu tun ist oder wo er es findet. Wie ihr bestimmt noch wisst, ist dies der zweite ausschlaggebende Faktor für hohes Mitarbeiterengagement.

Merkt euch daher: Intelligenz hängt nicht von der Schädelgröße ab, sondern von der Verknüpfung und Zusammenarbeit der Nervenzellen. Beim Homo sapiens und in Teams ist es ebenso: Vernetzte Gruppen werden in Zukunft besser zusammenarbeiten und mehr erreichen.

Simon Nattler, Gelsenkirchen

Simon Nattler ist Inhaber der ELISANA-Apotheken in Gelsenkirchen und Dorsten und Gründer der Team-App apocollect.